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Für Überraschungen gilt die Regel, dass die meisten von ihnen nicht gut sind.
Anonym, von der Alten Erde
Jessica war sehr lange von der Wüste fort gewesen, von den Fremen und von der Denkart, die ganz Arrakis erfüllte. Den Wüstenplaneten. Sie nahm einen tiefen Atemzug und war fest davon überzeugt, dass sich die Luft in der Passagierkabine bereits trockener anfühlte.
Als sich die protzige Staatsfähre vom Orbit herabsenkte, blickte sie von oben auf die ausgedehnte Stadt jenseits des Raumhafens und entdeckte vertraute Landmarken Arrakeens, während ihr gleichzeitig große Bereiche auffielen, die neu erbaut waren. Die gewaltige Zitadelle des Muad'dib dominierte die Nordhälfte der Stadt, obwohl viele weitere Neubauten um einen Platz in der Skyline wetteiferten. Zahlreiche Regierungsgebäude drängten sich an beeindruckende Tempel, die zu Ehren von Muad'dib und sogar von Alia errichtet worden waren.
Mit ihrem Wissen über die Bene-Gesserit-Methoden zur Manipulation von Eindrücken und der Geschichtsschreibung sowie zur Steuerung großer Populationen erkannte Jessica genau, was Paul – oder genauer gesagt, seine Bürokratie – beabsichtigt hatte. Beim Herrschen ging es zu einem großen Teil darum, Wahrnehmungen und Stimmungen zu erzeugen. Vor langer Zeit hatten die Bene Gesserit hier auf Arrakis ihre Missionaria Protectiva lanciert, um Legenden zu säen und die Menschen auf einen Mythos vorzubereiten. Unter Paul Muad'dib war diese Saat aufgegangen, aber nicht auf die Art und Weise, wie die Schwesternschaft es sich erhofft hatte ...
Die Fähre landete auf einer besonders ausgewiesenen Fläche, die für prominente Besucher vorgesehen war. Wirbelnde Sandwolken vor der Sichtluke versperrten Jessica die Sicht.
Als sich die Ausstiegsschotten öffneten, roch sie Staub in der Luft und hörte das Raunen einer wartenden Menge. Das Volk hatte sich bereits versammelt – ein Meer aus schmutzigen Roben und verhüllten Gesichtern. In Arrakeen war später Nachmittag, und die weiße Sonne warf lange Schatten. Jessica sah Hunderte von Menschen in braunen und grauen Wüstengewändern und dazwischen einige, die Stadtkleidung in verschiedenen Farben trugen.
Alle waren gekommen, um sie zu sehen. Jessica zögerte noch, die Fähre zu verlassen. »Ich war nicht darauf erpicht, hierher zurückzukehren, Gurney. Ganz und gar nicht.«
Er schwieg für längere Zeit, während er sich erfolglos bemühte, seine Gefühle zu verbergen, sein Unbehagen, vielleicht sogar seine Furcht, der klagenden Menge gegenüberzutreten. Schließlich sagte er: »Was ist dieser Planet ohne Paul? Er ist nicht mehr Arrakis.«
»Der Wüstenplanet, Gurney. Er wird immer der Wüstenplanet sein.«
Obwohl Jessica immer noch nicht trauern konnte, da diese Gefühle in ihr eingekapselt oder gefangen waren, spürte sie nun, wie ihre Augen feucht wurden, ein Brennen, das ein Hinweis auf die Befreiung war, die sie wollte und brauchte. Aber sie gestattete sich keine einzige Träne. Der Wüstenplanet erlaubte ihr nicht, den Toten ihr Wasser zu geben, nicht einmal ihrem Sohn. Außerdem riet die Schwesternschaft zur Unterdrückung von Emotionen, außer zum Zweck der Manipulation anderer. Also verboten ihr beide Philosophien – die der Fremen sowie die der Bene Gesserit –, ihre Tränen fließen zu lassen.
Jessica trat auf die offene Luke zu und ins helle Sonnenlicht. »Habe ich mich von dieser Welt verabschiedet, Gurney, oder habe ich mich nur zurückgezogen?« Sie hatte gehofft, den Rest ihres Lebens auf Caladan zu verbringen und nie mehr einen Fuß auf Arrakis zu setzen. »Mach dir bewusst, was dieser Planet uns angetan hat. Der Wüstenplanet hat mir meinen Herzog und meinen Sohn geraubt und all unsere Hoffnungen und Träume zerstört, die wir als Familie hatten. Er verschlingt Menschen.«
»›Jeder erschafft sich sein eigenes Paradies oder seine eigene Hölle.‹« Gurney streckte einen Arm aus, den sie widerstrebend annahm. Er aktivierte seinen Körperschild, bevor sie ins Freie traten. »Ich empfehle Ihnen, das Gleiche zu tun, Mylady. Eine Menschenmenge dieser Größe kann nicht auf verborgene Waffen abgesucht werden.« Jessica folgte seinem Vorschlag, aber selbst im schimmernden Kraftfeld fühlte sie sich nicht völlig sicher.
Flankiert von sechs großen Fedaykin-Wachen erschien Stilgar an der Landerampe, um sie zu eskortieren. Er sah verwittert, verstaubt und verbittert aus – wie immer. Ganz der alte Stilgar. Es beruhigte sie, den Naib wiederzusehen. »Sayyadina, ich bin gekommen, um Ihnen Schutz zu gewähren.« Es war gleichzeitig eine Begrüßung und ein Versprechen. Es war einfach nicht seine Art, übermäßige Freude darüber zu zeigen, dass er sie nach so vielen Jahren wiedersah. »Ich werde Sie direkt zur Regentin Alia bringen.«
»Ich gebe mich in deine Hände, Stilgar.« Obwohl er jetzt völlig geschäftsmäßig auftrat, rechnete sie damit, dass sie später Gewürzkaffee miteinander trinken und reden würden, nachdem sie der Menge entronnen waren.
Weitere Fremen-Krieger warteten am Fuß der Rampe und bildeten ein Spalier, um der Mutter Muad'dibs einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen, als wollten sie sie vor einem Sandsturm schützen. Stilgar führte die Besucher an.
Immer mehr Stimmen in der Menge riefen ihren Namen, brüllend, singend oder jubelnd und flehten um den Segen des Muad'dib. Die Menschen trugen schmutzige Kleidung in Grün, der Trauerfarbe der Fremen. Manche hatten sich die Haut um die Augen aufgekratzt, so dass ihnen Blut über die Wangen lief – eine gespenstische Hommage an Pauls Blindheit.
Mit ihrer erhöhten Aufmerksamkeit nahm Jessica einen Faden der Feindseligkeit wahr, der ins Gewebe der Stimmen eingeflochten war und aus allen Richtungen zu ihr herüberschallte. Sie wollten, sie brauchten, sie forderten und trauerten, aber sie konnten ihre Gefühle nicht kristallisieren lassen. Pauls Verlust hatte eine riesige Leere in der Gesellschaft hinterlassen.
Stilgar trieb sie zur Eile an. »Wir dürfen uns nicht aufhalten lassen. Hier lauert heute Gefahr.«
Hier lauert immer Gefahr, dachte sie.
Als die Fedaykin-Wachen sich gegen die Menge stemmten, hörte sie ein metallisches Klirren und einen Schrei. Hinter ihnen warfen sich zwei Wachmänner zu Boden und bedeckten etwas mit ihren Körpern. Gurney stellte sich zwischen sie und Jessica, um sie zusätzlich mit seinem Schild zu beschützen.
Eine Explosion zerriss die Wachen in blutige Fetzen, die sich über die Menge verteilten. Benommen von der Schockwelle betasteten manche Leute die rote Feuchtigkeit und staunten über das Wasser, das plötzlich auf ihrer Kleidung erschienen war.
Stilgar riss Jessica am Arm auf das Terminalgebäude zu und fügte ihr dabei Schmerzen zu. »Schneller«, drängte er. »Es könnte noch weitere Assassinen geben.« Er schaute sich nicht zu den getöteten Wachmännern um.
Während sich die Rufe und Schreie zu einem Gebrüll der Wut und Rachsucht steigerten, begab sich Jessica hastig in das bewachte Gebäude. Gurney und die verbliebenen Fedaykin schlossen hinter sich eine schwere Tür, wodurch der Lärm der Menge erheblich gedämpft wurde.
Das große Raumhafenterminal war für ihre Ankunft geräumt und überprüft worden, und nun hallte es von der Leere wider. »Was ist geschehen, Stilgar? Wer will mich töten?«
»Manche Leute wollen einfach nur Schaden anrichten und würden sich mit jedem beliebigen Opfer zufriedengeben. Sie möchten anderen genauso wehtun, wie ihnen wehgetan wurde.« Die Missbilligung ließ seine Stimme düster klingen. »Selbst als Muad'dib noch am Leben war, gab es viel Aufruhr, Missgunst und Unzufriedenheit. Die Menschen sind schwach und verstehen nichts.«
Gurney schaute sich Jessica genau an, um sich zu vergewissern, dass sie nicht verletzt war. »Wütende Menschen schlagen wild um sich – und irgendwer wird Ihnen die Schuld geben, als Mutter von Muad'dib.«
»Die bin ich, komme, was wolle.«
Das Terminalgebäude wirkte heller als bei ihrem letzten Besuch, aber nur ein wenig. Vielleicht lag es an etwas frischer Farbe und ein paar neuen Verzierungen. Sie konnte sich nicht erinnern, damals so viele Atreides-Falkenwappen an den Wänden gesehen zu haben – auf Veranlassung von Paul oder von Alia? In zahlreichen neuen Nischen standen Statuen von Muad'dib in den unterschiedlichsten heldenhaften Posen.
Stilgar führte sie über eine Treppe zur Landeplattform auf dem Dach, wo ein grauer gepanzerter Ornithopter auf sie wartete. »Hiermit werden Sie in die Sicherheit der Zitadelle gebracht. Von nun an sind Sie wirklich in guten Händen.« Ohne ein weiteres Wort eilte Stilgar davon, zurück zur Menge, um den Hintergrund der Explosion zu untersuchen.
Dann kam ein Mann auf sie zu. Er war in einen Destillanzug mit den grün-schwarzen Abzeichen der Atreides gekleidet, und seine Gesichtsmaske hing locker herunter. Jessica lief ein Schauder über den Rücken, als sie ihn erstaunt erkannte. »Lady Jessica, willkommen auf Arrakis. Es ist viel geschehen, seit ich hier gestorben bin.«
Gurney musste seiner Fassungslosigkeit Luft machen. »Große Götter der Tiefe – Duncan?«
Der Mann war eine fast perfekte Kopie von Duncan Idaho. Sogar seine Stimme war eine exakte Imitation. Nur die grauen, metallischen Augen unterschieden ihn vom Original. »Leibhaftig, Gurney Halleck, auch wenn der Leib ein Ghola ist, aber die Erinnerungen in diesem Kopf sind meine eigenen.«
Er streckte die rechte Hand aus, doch Gurney zögerte noch. »Oder bist du der, den die Tleilaxu Hayt nennen?«
»Hayt war ein Ghola ohne Duncans Erinnerungen, eine biologische Maschine, die darauf programmiert war, Paul Atreides zu vernichten. Der bin ich nicht mehr. Ich bin wieder Duncan – ganz der alte Duncan. Der Junge, der in den Ställen des Alten Herzogs arbeitete, der junge Mann, der auf Ginaz zum Schwertmeister ausgebildet wurde, der Mann, der Paul vor den Assassinen des Hauses Moritani beschützte, und der Mann, der dafür kämpfte, Ix von den Tleilaxu zu befreien.« Er sah Jessica mit einem verlegenen Lächeln an. »Ja, und auch der Mann, der sich mit Gewürzbier betrank und jedem, der in der Residenz von Arrakeen noch wach war, an den Kopf warf, dass Sie als Verräterin mit den Harkonnens gemeinsame Sache gemacht haben, Mylady.«
Jessica erwiderte den Blick seiner seltsamen Augen. »Und du warst der Mann, der sein Leben geopfert hat, damit Paul und ich nach dem Überfall auf die Basis von Dr. Kynes entkommen konnten.« Es gelang ihr nicht, die Bilder aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen, wie der ursprüngliche Duncan einer Horde Sardaukar in Harkonnen-Uniformen zum Opfer gefallen war. Es irritierte sie, den Ghola zu sehen. Es war, als hätte sich die Zeit gefaltet.
Nun deutete dieser Duncan auf den Thopter und forderte sie zum Einsteigen auf. Trotz der dicken Panzerung war das Fluggefährt im Innern luxuriös ausgestattet.
Als sie das Passagierabteil betrat, sah Jessica dort zu ihrer Überraschung Alia sitzen, ihr zugewandt. »Danke, dass du gekommen bist, Mutter. Ich brauche dich hier.« Sie schien sich für dieses Eingeständnis zu schämen und fügte hinzu: »So geht es uns allen.« Das kupferrote Haar der jungen Frau war lang und ihr Gesicht schmaler als früher, wodurch ihre blau-in-blauen Augen größer wirkten.
»Natürlich bin ich gekommen.« Jessica nahm neben ihrer Tochter Platz. »Ich bin wegen Paul, wegen dir und wegen meiner neugeborenen Enkelkinder gekommen.«
»›Eine Tragödie bringt uns zusammen, wenn die Bequemlichkeit es nicht schafft‹«, zitierte Gurney.